Menschlichkeit – erstmal für 20 Minuten

„Wenn die Flüchtlinge hier ankommen, sehen sie zuerst Uniformen. Das weckt Ängste – nach den schlimmen Erfahrungen, die sie oft mit Polizei und Militär in ihrer Heimat gemacht haben. Dazwischen sind plötzlich Menschen, die sie willkommen heißen, ihnen freundlich begegnen, sie umarmen, eine Tasse Tee, einen Schluck Wasser anbieten. Menschlichkeit leuchtet hier für Sekunden auf. Und diese Sekunden tragen.“

So beschreibt Birgit Worms-Nigmann, Pfarrerin aus Dortmund und Mitglied der Kirchenleitung, die Eindrücke von der Arbeit, die Mediterranean Hope auf Lampedusa leistet. Es sind sechs junge Frauen und Männer, die seit 2014 hier eine „Beobachtungsstation“ betreiben. Die kleine Insel mitten im Mittelmeer ist zum Symbol geworden: für europäische Abschottungspolitik und massenhaftes Sterben. Einer der Hauptfluchtwege aus Afrika führt hierher. Lampedusa, 130 Kilometer von Tunesien entfernt, ist ein Brennpunkt der Südgrenze von Europa. Aber es ist nicht nur ein Symbol, sagt Paolo Naso, Leiter von Mediterranean Hope: Es ist Wirklichkeit.

Für Marta Bernardini ist es entscheidend, dass sie mit ihrem Team das Leben hier auf der Insel teilt. Auf den 20 Quadratkilometern herrschen – auch ohne Flüchtlinge – massive Schwierigkeiten: Die 4.500 Einwohner leiden unter mangelhafter Gesundheitsversorgung, unter Mangel an frischen Lebensmitteln, unter Problemen mit Trinkwasser und Müll. Zum Programm von Mediterranean Hope auf Lampedusa gehört von Anfang an die enge Zusammenarbeit mit lokalen Organisationen, mit der Bevölkerung, mit den Behörden sowieso, mit der örtlichen katholischen Kirche. Dass die Helfer die Flüchtlinge überhaupt direkt bei der Ankunft begrüßen dürfen, ist nicht selbstverständlich: Der Teil des Hafens, wo die Schiffe der Küstenwache festmachen, ist militärisches Sperrgebiet. Das hohe Ansehen des evangelischen Kirchenbundes in Italien (FCEI) und sicher auch die exzellenten Verbindungen von Paolo Naso haben diese Erlaubnis ermöglicht. So dürfen auch wir als Besucher das eiserne Gittertor passieren und die Stelle am Anleger aufsuchen, wo die aus Seenot geretteten Afrikaner erstmals europäischen Boden betreten. 20 Minuten haben die freundlichen Helfer Zeit für Menschlichkeit, dann werden die Flüchtlinge zum Hotspot weitertransportiert. Wir werfen später von weitem einen Blick auf die Gebäude in den Hügeln oberhalb des Ortes. Auch die Helfer von Mediterranean Hope dürfen hier nicht hinein. Hier hat der italienische Staat des erste Auffanglager dieser Art errichtet. Die 328 Plätze reichen oft nicht aus. Doch die erwachsenen Flüchtlinge dürfen ihr Quartier tagsüber verlassen, „um Druck aus der Situation herauszunehmen“, wie man uns erklärt. Dann können sie auch die Anlaufstation von Mediterranean Hope besuchen. Durchschnittlich 80 tun das pro Tag. Sie finden dort Menschen, die ihnen zuhören, die sich für sie interessieren. „Wir sammeln Geschichten, um Hintergründe zu verstehen“, erklärt Marta Bernardini. Und diese Geschichten handeln von Menschen, die eingesperrt, misshandelt, sexuell missbraucht wurden. Viele schwangere Frauen, die auf Lampedusa ankommen, sind vergewaltigt worden – von Schleusern und ihren Helfershelfern.

Mediterranean Hope betreibt auch Öffentlichkeitsarbeit, man informiert italienische und internationale Medien, deren Vertreter nach Lampedusa kommen, Internet und Social Media werden genutzt. So ist die Gruppe außer zur Evangelischen Kirche von Westfalen auch in Kontakt zu vielen weiteren Kirchen in Europa. „Diese Arbeit hier ist unser Weg, unseren Glauben zu bezeugen“, sagt Marta Bernardini.

Kirchenleitungsreise der EKvW nach Italien 3.-8.3.2017

Posted by Kirche unterwegs – Reiseblogs der EKvW on Montag, 6. März 2017