„Natürlich freuen wir uns, wenn nach einiger Zeit der Wunsch entsteht, sich auch taufen zu lassen“, sagt Tobias Merckle. Aber es ist nicht Voraussetzung, um Mitglied zu werden. Der Antrag darauf ist im Internet zu finden: Jede und jeder kann damit in die Gemeinde am Glemseck aufgenommen werden.
Merckle, Diakon und Sozialarbeiter, ist geschäftsführender Vorstand des Vereins Seehaus e.V., der in dem Städtchen Leonberg bei Stuttgart eine Modelleinrichtung des Jugendstrafvollzugs in freier Form betreibt. Daraus entstand die ungewöhnliche Kirchengemeinde.
In einem alten Gutshaus leben 18 jugendliche Straftäter in drei Wohngemeinschaften familienähnlich zusammen. „Wir wollen sie jenseits der Gefängnismauern dazu erziehen, ein Leben ohne Kriminalität zu führen“, sagt Tobias Merckle. Sie sollen lernen, Verantwortung füreinander zu übernehmen. Ein straffer Tagesablauf und regelmäßiger Sport fordern die 14- bis 23-Jährigen. Gespräche mit den Opfern konfrontieren die Täter mit den schlimmen Folgen ihrer Vergehen. So können sie an ihrer Vergangenheit arbeiten. Und: Die Mitarbeiter leben ihren christlichen Glauben vor.
Das geschah von Anfang an auch durch Gottesdienste – in Formen, die Jugendliche ansprechen. „Damit verband sich die Hoffnung, Seehaus-Ehemalige wirklich langfristig in Kirchengemeinden zu integrieren“, berichtet Merckle. Doch das gelang nur in ein, zwei Fällen. Zu verschieden sind die Lebenswelten, Interessen, Gesprächsthemen, Milieus. So wurde die Vision einer eigenen Gemeinde geboren. Einer diakonischen, missionarischen, integrativen Gemeinde, die Leute erreicht, die andere nicht erreichen. Die Vision ist kühn, die Zielgruppen sind zahlreich: Strafgefangene, Haftentlassene, Abhängige, Bildungs- und Kirchenferne, Flüchtlinge. Oder Motorradfahrer – jährlich kommen 75.000 ganz in der Nähe zu einem der größten Bikertreffen Europas zusammen. Oder Personen, die kirchlich geprägt waren, dann aber nichts mehr mit der Kirche zu tun hatten. Oder Christen, die in den Großraum Stuttgart ziehen und eine lebendige, diakonische Gemeinde suchen.
Vieles davon ist noch Vision, räumt Merckle ein. Aber es gibt im Seehaus eine Menge Menschen, die für das Evangelium brennen und diese Gemeinde bauen wollen. In der Evangelischen Landeskirche in Württemberg hat man den kraftvollen Impuls erkannt und dafür schließlich einen kirchenrechtlichen Weg gefunden: Die Kirchenordnung ermöglicht nun personale Gemeinden, die etwas anders sind als herkömmliche und „an der langen Leine geführt werden“, wie Wolfgang Vögele sagt. „Wir haben eine passende Rahmenordnung geschaffen“, berichtet der Dekan des Kirchenkreises Ludwigsburg, der sich für die Gemeinde am Glemseck stark einsetzt. „Das war nicht ganz einfach – wenn hoch motivierte Leute sofort loslegen wollen und eine ehrwürdige Institution sich nur schwerfällig bewegt.“ Doch am 18. April 2016 war es so weit: Die Gemeinde am Glemseck wurde vom Oberkirchenrat in Stuttgart als Personalgemeinde anerkannt. Sie ist ihrer Rechtsform nach eine unselbständige Gemeinde unter dem Dach der Kirchengemeinde Leonberg Nord.
Die Rechtsform ist jedoch den meisten am Glemseck egal. 80 bis 120 kommen zu einem der Gottesdienste, die alle zwei Wochen gefeiert werden, mit viel Musik und an wechselnden Orten, zum Beispiel in der Schreinerei im Seehaus, wo werktags strafgefangene Jugendliche an der Hobelmaschine stehen. Die Predigt halten meistens Gäste, auch mal ein freikirchlicher Pastor oder ein katholischer Priester. Einmal im Monat gibt es den „Lebensbericht“: Gäste mit interessanter Lebensgeschichte, nicht selten ehemalige Suchtkranke oder Straftäter, erzählen von sich. Und schließlich kommt man noch regelmäßig zum Gemeinschaftsabend zusammen, mit Musik, Spielen, Zeit zum Reden und einem geistlichen Impuls. Außerdem bietet die Gemeinde Kindergottesdienst, einen Biker-Stammtisch, Jugendkreis, Krabbelgruppe und vieles mehr.
Für Dr. Martin Brändl von der Projektstelle „Neue Aufbrüche“ der württembergischen Landeskirche steht fest: „Wir müssen die Mentalitäten verändern. Es reicht nicht, nur das Alte festzuhalten.“ Der Pfarrer betont aber die Bedeutung der Ortsgemeinden, die es zu stärken gelte. „Wir brauchen das Neue nicht als Alternative, sondern als Ergänzung.“
Die junge Gemeinde am Glemseck wächst. Noch kennt man sich gegenseitig. Wächst sie weiter, wird sie sich verändern. „Nur durch persönliche Beziehungen werden wir es schaffen, dass die Leute hierbleiben“, ist Tobias Merckle überzeugt. Die Zukunft ist offen und spannend.
Demografischer Wandel, gesellschaftliche Milieus ohne Berührung zu Kirche, Wegbrechen von früher selbstverständlichen christlichen Traditionen…
Die westfälische Kirchenleitung will dieser Herausforderung begegnen. Und hat sich deshalb auf eine Exkursion nach Württemberg begeben, um dort einige beispielhafte FreshX-Projekte zu besuchen, um davon zu lernen.