Farbige Unordnung

Es hat sich etwas verändert in der Türkei. Es gibt wichtige Anzeichen
für einen Wandel hin zu mehr Menschenrechten, Bürgerrechten und weg
von staatlicher Willkür. Noch vor einigen Jahren hatte eine
vergewaltigte Frau, die das Verbrechen bei der Polizei anzeigte, kaum
Chancen. Im Gegenteil: Sie musste damit rechnen, verhöhnt, beschimpft
oder gar ein weiteres Mal misshandelt zu werden. Das ist anders
geworden, Gott sei Dank. Das Bewusstsein für die Rechte von Frauen ist
ebenso gewachsen wie ihr Selbstbewusstsein.

Gestern Abend: Treffen mit Aktivisten vom Gezi-Park. Wir sitzen im
Freien, in einer kleinen Grünanlage zwischen Kinderspielplatz und
Hunde-Auslauf. Es scheint ein versprengtes Häuflein, das da zum
wöchentlichen Meeting zusammenkommt.

Sie geben nicht auf. Im Frühsommer 2013 gingen die Bilder von
Massendemonstrationen auf dem Taksim-Platz um die Welt, täglich kamen
Tausende, dachten sich fantasievolle Formen des Protests aus, um für
Meinungsfreiheit und gegen staatliche Willkür zu demonstrieren. Auslöser
war ein Bauprojekt, das den Gezi-Park weitgehend zerstören würde: ein
Einkaufszentrum, dessen Fassade auch noch an eine osmanische Kaserne
erinnern soll, die hier einmal stand. Ministerpräsident Tayyip Erdogan
hat die Sache persönlich vorangetrieben.

Die acht jungen Leute, mit denen wir uns unterhalten, sind für
Freiheit, für direkte Demokratie, für soziale Gerechtigkeit und für den
Schutz von Natur und Umwelt. Aus etwa 50 Personen besteht der harte Kern
in ihrem Istanbuler Viertel, in anderen Bezirken, aber auch in anderen
türkischen Städten gibt es Gleichgesinnte, genaue Zahlen kennen sie
nicht. Über Facebook ist man vernetzt und so mit einigen Tausend bis
Verbindung.

Sie wollen kein Verein und keine Partei sein. Sie wollen neue Wege und
Lösungen. Ganz unterschiedlich sind die Hintergründe und Überzeugungen,
die sie mitbringen: Kemalismus im Sinne des Staatsgründers Atatürk, der
eine ethnisch einheitliche, säkulare Türkei anstrebte, ist ebenso
vertreten wie sozialistische Ideale oder anarchistische Ideen.
Pluralismus als Prinzip.

Sie sind die Kinder der Eltern, die 1980 geschwiegen haben, als die
Militärs in der Türkei eine Diktatur errichteten. Heute schweigen die
Jungen nicht, sondern protestieren. Mit hohen Idealen setzen sie sich
für Bürgerrechte, Meinungsfreiheit und eine menschenfreundliche
Gesellschaft ein und suchen dabei einen guten Weg, so Präses Annette
Kurschus. Sie hofft, dass sie den Mut nicht verlieren und ihre Kräfte
zielgerichtet bündeln können. In dem Prozess des Wandels der
demokratischen Kultur in der Türkei ist die Gezi-Park-Bewegung nicht der
einzige, aber ein wichtiger Faktor.

Später gehen wir über eine öffentliche Treppe, deren Stufen in den
Farben des Regenbogens bemalt sind. Als das erstmals geschah, wurde die
Farbe auf Anordnung der Stadtverwaltung wieder entfernt. Doch über Nacht
war die Treppe wieder bunt. Schließlich ließ das Ordnungsamt die farbige
Unordnung zu. Es hat sich etwas verändert in der Türkei.