Orientierung für den Aufbau einer neuen Gesellschaft

1. März


Dr. Ulrich Möller:
Die letzte Station unseres Weges durch die grauenvolle Geschichte des Genozid an der Tutsibevölkerung in der nationalen Gedenkstätte Ruandas: die Räume der Kinder. Wir blicken auf Fotos in die strahlenden, offenen Gesichter von Florence, David und vieler anderer Kinder im Alter zwischen einem und elf Jahren. Darunter steht: Lieblingsessen, Lieblingsbeschäftigung, bester Freund, Alter, Todesdatum, Todesart. Erschlagen, erschossen, erstochen, zerhackt, an der Wand zerschmettert. Nicht nur Fremde, auch Menschen, mit denen sie Haus an Haus gelebt haben, die sie als Nachbarn zuvor auf den Arm nahmen, haben ihr Leben auf grausamste Weise ausgelöscht. Wie war das möglich?

Jason Nshimyumukiza war 14 Jahre, als der Genozid sein Dorf auf dem Land erreichte. Er und seine Familie rannten in die Dorfkirche, um dort Schutz zu suchen. Aber schon kurz danach drang die Hutu-Miliz in die Kirche ein und tötete fast alle. Jason entkam dem Morden als einziger seiner Familie. Zusammen mit wenigen anderen Kindern konnten sie sich verstecken. Später wuchs er in einem Waisenhaus auf. Rückblickend sagt er: „Als das Morden begann, dachten wir, die Milizen würden nur die Führer und die Gebildeten töten. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie kleine Babys ermorden würden. Ich kann nicht verstehen, warum Menschen ihre Familien, Freunde und Nachbarn töten wollten. Ein Grund für dieses Morden war wohl Unwissenheit und fehlende Bildung.“

Jason hat in dem Waisenhaus nach seinen traumatischen Erfahrungen neue Hoffnung für die Zukunft gefunden. Er besuchte so erfolgreich die Schule, dass man ihm sogar ein Regierungsstipendium für ein Hochschulstudium anbot. Das schlug er aber aus. Er kehrte in seine Heimatregion zurück, um dort als Krankenpfleger in der örtlichen Krankenstation zu arbeiten und den Überlebenden seiner Familie zu helfen. Nach drei Jahren hat er dann doch noch ein Studium in Kigali begonnen: Medizin. Heute hilft Jason den Menschen als Arzt.

20 Jahre nach dem Genozid sehen wir in Ruanda: Der Lebensweg von Jason steht beispielhaft für den Neuaufbruch der Menschen in diesem Land. Und die Kirchen tragen wesentlich dazu bei.

Von der Genozid-Gedenkstätte fahren wir in die Stadt Butare. Hier erreichte das Morden ein solch unvorstellbares Ausmaß, dass man der Stadt sogar einen neuen Namen gegeben hat, damit die Einwohner künftiger Generationen nicht auf ewig mit diesem Massaker identifiziert werden. Die Stadt wurde umbenannt in Huye.

Hier entsteht seit 2010 aus einer ehemals kleinen theologischen Ausbildungsstätte eine protestantisch-ökumenische Universität. Seit mit deutschen Mitteln des Evangelischen Entwicklungsdienstes (EED) ein modernes Universitätsgebäude erreichtet werden konnte, ist die Zahl der Studierenden von unter 400 auf über 1.300 sprunghaft angestiegen.

Presbyterianer, Anglikaner, Baptisten, Methodisten und sogar die Pfingstkirchen arbeiten gemeinsam für die Ausbildung der kommenden Generationen in zahlreichen Fakultäten. 70 Prozent studieren Erziehungswissenschaften. Im internationalen Studiengang „Master of Education“ treffen wir auch auf Studierende aus Kamerun, Kenia, Ghana und dem Kongo -ein unverhofftes Wiedersehen mit einer Studentin aus Goma, der unsere Delegation am Sonntag zuvor noch beim Gottesdienst begegnet war.

Internationale Standards des Qualitätsmanagements werden in den Erziehungswissenschaften gelehrt: Der Unterricht vor Ort soll den Menschen Orientierung geben für den Aufbau einer neuen Gesellschaft, in der alle ihren Platz finden, in der niemand mehr Angst haben muss vor Unrecht und Gewalt. Wir sprechen kurz mit der Dozentin des internationalen Kurses. Professorin Affolderbach aus Bamberg ist zugleich Vorsitzende der EKD-Kammer für Bildungsfragen. Sie ist begeistert von dem Potenzial der internationalen Studierendengruppe. Ein wichtiger Beitrag der protestantischen Kirchen in Ruanda zur Überwindung von Unwissenheit und fehlender Bildung, zur dauerhaften Entwicklung friedlichen Zusammenlebens in Ruanda. Der Genozidwaise Jason Nshimyumukizas würde sich darüber freuen.

Im Namen unserer Kirchenleitungsdelegation überreiche ich dem presbyterianischen Kirchenpräsident Dr. Elysée Musemakweli, Dekan der Theologischen Fakultät, ein Faksimile des Originals der Barmer Theologischen Erklärung aus dem Archiv unserer Landeskirche. Ein besonderes Zeichen unserer Verbundenheit: Jesus Christus ist Zuspruch und Anspruch auf unser ganzes Leben. Kein Lebensbereich ist ausgenommen. Dieses Bekenntnis verbindet unsere Kirchen in Deutschland und Ruanda nach den Erfahrungen von Holocaust und Genozid besonders. Und begründet unsere kritische Solidarität.

1 thought on “Orientierung für den Aufbau einer neuen Gesellschaft”

  1. Liebe Frau Friedrich, liebe Delegation,
    über die WN stieß ich auf Ihre Reise nach Ruanda + Kongo und Ihren in jeder Hinsicht mitnehmenden Blog. Herzlichen Dank für Ihren Brückenschlag zu den Menschen in einer Region, wo die Höllen auf Erden bis heute andauern. Welcher Zufall: Während Sie MONUSCO am 24.2. besuchten, hatten wir in Berlin eine Veranstaltung mit dem deutschen MONUSCO-Chef Martin Kobler. Mein Bericht dazu ist unter http://www.nachtwei.de zu finden – zusammen mit einem Kurzbericht zu Ihrer Reise mit Link.
    Mit vielen anderen bin ich sehr gespannt auf ihre ausführlichen Reiseerfahrungen.
    Kommen Sie gut zurück. Mit herzlichen Grüßen auch an Ihre einheimischen Partner
    Ihr Winfried Nachtwei (Münster)
    Ex-MdB

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