Abgewrackte Autos stehen am Straßenrand. Herrenlose Hunde streunen über den Asphalt. Kleinkinder schreien hinter Metallgittern. Es stinkt. Wir sind in einem Barrio, einem Elendsviertel im Bezirk San Fernando in der Millionenmetropole Buenos Aires. Zusammen mit einer jungen Frau aus Baden, die hier ein Jahr lang ihren Freiwilligendienst absolviert, ziehen wir um den Block und werfen einen Blick auf Häuser und Menschen.
„Am besten versteckt ihr die Kamera unterwegs“, mahnt unser Reiseleiter Nicolàs Rosenthal und deutet damit an, dass es man überfallen werden kann, wenn man sich fahrlässig verhält. Oft haben die Familien, die hier leben, nur ein einziges Zimmer. Nicht viel, wenn man weiß, das es für viele Kinder, Großeltern, ja zuweilen sogar Onkel und Tanten reichen muss.
Während draußen irgendwo übersteuerte Musik dudelt und ein Motorroller mit der Schleifhexe bearbeitet wird, dringen sanfte Violinenklänge durch die halboffenen Fenster des Tageszentrums ASE. Hier wird schon fleißig geprobt. Immerhin ist Besuch aus Deutschland unterwegs.
Ebenso wichtig wie der Besuch ist das Ziel dieses Projektes: Jugendliche aus dem Armenviertel sollen die Möglichkeit haben, ein Instrument zu lernen und gemeinsam mit anderen zu musizieren. Zwischen sechs und 21 Jahren sind die Musikerinnen und Musiker alt. Angeleitet werden sie von Emilio Pagano, der von einem Trompeten- und einem Gitarrenlehrer unterstützt wird.
Kinder, die sonst nicht oder nur sehr wenig von ihren Eltern betreut werden, müssen auf diese Weise lernen, diszipliniert zu üben und regelmäßig zu den Proben zu kommen. Durschnittlich viermal pro Woche hat jedes Kind das von ihm selbst ausgewählte Instrument zum Spielen in der Hand.
So wie heute. Gespannt warten rund 20 Eltern zusammen mit der westfälischen Delegation in dem ebenso vollen wie stickigen Raum in der ersten Etage. Dann geht es los. In unterschiedlichen Besetzungen, mal nur mit Violinen, Trompeten oder Gitarren, mal zusammen als Orchester spielen die Kinder und Jugendlichen an diesem Nachmittag ein abwechslungsreiches Programm: Alle Vögel sind schon da, Fuchs, du hast die Gans gestohlen, Ihr Kinderlein kommet, Freude schöner Götterfunken oder den argentinischen Klassiker „La Cigarra“, der während der Diktatur nicht gespielt werden durfte.
Wir sind sehr beeindruckt, wie gut die Kinder ihre Instrumente bereits beherrschen, wie gut sie aufeinander hören können und mit welcher Freude sie aufspielen. Die steht auch Emilio Pagano ins Gesicht geschrieben. Wir können nur ahnen, wieviel Arbeit er bereits in das Projekt gesteckt hat. Eines aber ist klar: er ist begeistert bei der Sache und ebenso mitreißend wie herzlich um Umgang mit den Kindern.
Inzwischen stehen 20 Geigen, drei Celli, sechs Gitarren und zehn Trompeten auf der Inventarliste. Ab und zu gibt das Orchester Konzerte, damit die muikalischen Erfolge auch außerhalb des Tageszentrums gehört werden können. Und für alle, die weniger musikalisch sind, bietet die ASE regelmäßig einen Keramik-Workshop an.
Zugleich sollen die jungen Musikerinnen und Musiker ein Zugehörigkeitsgefühl zur Gemeinde entwickeln. Denn das Tageszentrum ASE ist viel mehr als nur Musik und Keramik: unter der Regie von Pfarrer Sabino Ayala werden hier Gottesdienste und Kindergottesdienste gefeiert, Kinder getauft und in einer Jugendgruppe aktuelle Themen diskutiert.
Nach dem Konzert sitzen wir noch eine Weile mit den Eltern der Kinder zusammen. „Ich kann immer noch nicht glauben, wie sehr mein Kind hier aufgeblüht ist“, sagt Sylvia, deren zehnjährige Tochter Evelyn seit einem Jahr Geige spielt. Und die Mutter von Joana ergänzt: „Ich bin so froh, dass meine Kinder hier musizieren dürfen.“
Nach rund zwei Stunden stehen wir wieder draußen. Mitten im Dreck, im Lärm und im Gestank dieses Bezirkes. Dennoch gehen wir voller Hoffnung. Denn die Arbeit des Orchesterprojektes im Tageszentrum ASE hat uns gezeigt, dass es Menschen gibt, die die Kinder hier noch nicht aufgegeben haben. So ahnen wir, dass dieses Viertel trotz des äußeren Anscheins noch nicht verloren ist.