Schätzungen zufolge sind bislang mindestens 800.000 Menschen vor dem
Bürgerkrieg aus Syrien in die Türkei geflohen. Aber auch viele
Flüchtlinge anderer Herkunft halten sich in der Türkei auf, besonders
in Istanbul. Neben der staatlichen Organisation gibt es kirchliche und
private Hilfe. Eine Kirchenleitungsdelegation der Evangelischen Kirche
von Westfalen hat bis Freitag christliche Minderheiten in der Türkei
besucht und dabei Einblicke in Flüchtlingshilfe bekommen.
In Mardin in der Osttürkei steht seit Juni vergangenen Jahres eines von
25 Lagern, das der türkische Staat für die Bürgerkriegsflüchtlinge aus
Syrien eingerichtet hat. Hier leben 3.000 Gäste, so die offizielle
Bezeichnung. Alles ist blitzsauber und ordentlich. Die klimatisierten
Zelte sind solide und in bestem Zustand, auf dem Fußboden mit
Steinplatten ausgelegt. Davor gibt es sogar in Reih und Glied
angepflanzte kniehohe Bäumchen, die einen Vorgarten andeuten. Was
Lagerleiter Erbek Munir berichtet, bestätigt den Eindruck: Dieses Camp
wird offenbar bestens geführt. Er erzählt von Schulen für alle Jahrgänge
bis hin zum Gymnasium, von Angeboten beruflicher Bildung, etwa für das
Schneider- oder Friseurhandwerk, von medizinischer Versorgung im
Lagerkrankenhaus und von psychosozialer Traumabehandlung.
Es herrscht striktes Fotoverbot, auch sich selber möchte der
Lagerleiter nicht fotografieren lassen. Ein Gang durch das Camp ist für
die Besucher nicht möglich. Klar ist: Die türkische Regierung setzt mit
ihrer Katastrophen-Hilfsorganisation AFAD alles daran, um die syrischen
Flüchtlinge vorbildlich aufzunehmen. Während des Zweiten Golfkrieges ab
1990 sah sich die Türkei internationaler Kritik ausgesetzt wegen der
menschenunwürdigen Zustände, unter denen die Flüchtlinge dort lebten.
Das hat man ernst genommen, sagt der Journalist Ekrem Güzeldere,
man will jetzt nicht noch einmal so am Pranger stehen.
Das Lager in Mardin besteht aus einem muslimischen Teil, der voll
belegt ist, und einer Abteilung für die Christen aus Syrien. Dort leben
zurzeit lediglich zwei Familien, also rund 30 Personen. Warum nicht
mehr? Sie fürchten, von den Muslimen im Lager bedrängt zu werden,
erklärt Adnan Mermertas, in Deutschland lebender syrisch-orthodoxer
Christ, der die westfälische Kirchenleitungsdelegation begleitet hat.
Die meisten dieser Flüchtlinge finden Unterkunft bei ihren
Glaubensgeschwistern in der Grenzregion, die wie sie Aramäisch sprechen.
Der Tur Abdin war ursprünglich christliches Kernland. Die
syrisch-orthodoxe Kirche führt sich auf die im Jahr 37 nach Christus
gegründete Gemeinde von Antiochien (heute Antakya) zurück und bewahrt
bis heute die Muttersprache von Jesus, das Aramäische. Heute leben im
Tur Abdin nur noch wenige Aramäer. Aber sie tun alles, um den
geflohenen Christen aus Syrien zu helfen. Es geht nicht darum, dass sie
sich auf Dauer in der Türkei niederlassen. Fernziel bleibt die Rückkehr
nach Syrien. Jetzt ist akute Nothilfe gefragt. Quartiere in Kirchen
und Klöstern ebenso wie in Privathäusern, Nahrung, Kleidung das
Lebensnotwendige stellen die Aramäer mit organisatorischer Hilfe ihrer
Kirche zur Verfügung.
Auch in Istanbul leben Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien, doch viele
kommen aus Afrika. Sie werden geduldet, schlagen sich in der Metropole
am Bosporus irgendwie durch. Das katholische St. Georgs-Krankenhaus
behandelt sie kostenlos, im Durchschnitt 20 pro Tag suchen die Adresse
des österreichischen Ordens der Barmherzigen Schwestern auf, einige sind
auch in stationärer Behandlung. Die Evangelische Kirche von Westfalen
unterstützt das kleine Hospital für diese Arbeit finanziell. Wir haben
gesehen, dass unsere Unterstützung wirklich unmittelbar und vollständig
den Menschen zugute kommt, die sie brauchen, sagte Präses Annette
Kurschus, leitende Theologin der westfälischen Landeskirche.
Das Krankenhaus gehört zum Verbund eines christlichen Hilfswerkes, das
im Zentrum der Stadt ein Anlaufzentrum unterhält. 15 Kirchen
verschiedener Konfessionen beteiligen sich daran, darunter die
deutschsprachige evangelische Gemeinde, deren Pfarrerin Ursula August
aus Westfalen kommt. Flüchtlinge finden hier in der belebten
Istiklalstraße einen hilfreichen Erstkontakt, es gibt eine Suppenküche
und juristische Beratung, es gibt Kleidung und Sprachkurse. Wir schauen
ringsherum: Wen kennen wir, wen finden wir?, berichtet die Diakonin
und Sozialpädagogin Gudrun Keller-Fahlbusch von der evangelischen
Gemeinde: Die einen sammeln Kleider, andere können Türkisch
unterrichten, wieder andere helfen jungen Müttern mit praktischen Tipps
und Milch für ihre Babys. Diese Arbeit sei eigentlich illegal:
das Flüchtlingshilfswerk ist hier nicht als Verein, Verband oder in
anderer Form registriert, weil auch die beteiligten Kirchen nicht den
Status einer Rechtsperson haben. Man bewegt sich in einer rechtlichen
Grauzone. Aber es funktioniert.