30.9. bis 2.10. 2016: Kirchenleitungs-Exkursion besuchte „Fresh Expressions of Church“ in Württemberg

Neue Aufbrüche in Württemberg

„Das Thema ist dran, denn das System unserer herkömmlichen Kirchengemeinden kommt an seine Grenzen, wenn es um kirchliche Präsenz und Attraktivität bei den Menschen geht“, erklärt Oberkirchenrätin Doris Damke. Da ist der demografisch bedingte Mitgliederverlust – mehr Beerdingungen als Taufen. Viele gesellschaftliche Milieus haben keine Berührung zu Kirche. Früher selbstverständliche christliche Traditionen sind verschwunden.

Die westfälische Kirchenleitung will dieser Herausforderung begegnen. In England hat sich seit zwei Jahrzehnten eine Bewegung neuer kirchlicher Aufbrüche gebildet. Sie wird von der Anglikanischen Staatskirche, die mit ähnlichen Problemen zu tun hat wie die Kirchen in Deutschland, inzwischen gezielt gefördert.

Solche neuen kirchlichen Ausdrucksformen, „Fresh Expressions of Church“, kurz: Fresh X, fügen sich nicht in die bisherigen kirchlichen Strukturen ein. Sie haben auch nicht das Ziel, am Ende die Menschen in die traditionellen Gemeinden „zurückzubringen“ und wieder für gut besuchte Sonntagsgottesdienste zu sorgen. Sie fragen zunächst gar nicht nach kirchlichen Ordnungen und Strukturen. Vielmehr geht es in erster Linie darum, Menschen zu erreichen, die keinen Bezug zu Kirche und Gemeinde haben. Eine Fresh X will außerdem ganz in eine bestimmte Lebenswelt, in ein bestimmtes Milieu „eintauchen“ (Markus Weimer). Wichtig ist auch die klare Einladung in die Nachfolge Jesu, die das eigene Leben verändert. Es entsteht etwas Neues, Eigenständiges. Fresh Expressions of Church konkurrieren nicht zu traditionellen Formen von Kirche, wollen sie nicht ersetzen, sondern ergänzen.

Auch in Deutschland gibt es mittlerweile eine lebendige Fresh X-Szene – mit manchen Zwischenformen, Schattierungen und Facetten. Besonders reich und vielfältig ist die Entwicklung in Württemberg. Die Kirchenleitung hat deshalb beschlossen, dort einige beispielhafte Projekte zu besuchen, um davon zu lernen. Einige Superintendenten, Ehrenamtliche aus Kirchengemeinden und Hauptamtliche vom Landeskirchenamt nahmen ebenfalls an der Fahrt vom 30. September bis 2. Oktober teil.  Sie wurde vom Amt für missionarische Dienste (AmD) der Evangelischen Kirche von Westfalen konzipiert und organisiert. Pfarrer Andreas Isenburg vom AmD und Leiterin Birgit Winterhoff sind in der Szene bestens vernetzt.

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Tobias Merckle leitet des Seehof, wo jugendliche Straftäter im freien Vollzug leben.

Teilnehmende FreshX Exkursion 2016

Dietmar Chudaska, Superintendent des Kirchenkreises Gladbeck-Bottrop-Dorsten

Landeskirchenrat Dr. Hans-Tjabert Conring, Jurist im Landeskirchenamt

Oberkirchenrätin Doris Damke, Mitglied der Kirchenleitung

Andreas Duderstedt, Pressesprecher

Dirk Gellesch, nebenamtliches Mitglied der Kirchenleitung

Karin Graef, Mitglied des Kreissynodalvorstandes Hamm

Dr. Uwe Gryczan, Superintendent des Kirchenkreises Lübbecke

Albert Henz, Theologischer Vizepräsident, Mitglied der Kirchenleitung

Andreas Huneke, Superintendent des Kirchenkreises Vlotho, nebenamtliches Mitglied der Kirchenleitung

Andreas Isenburg, Amt für missionarische Dienste

Frank Millrath, Superintendent des Kirchenkreises Hamm

Ingo Neserke, Superintendent des Kirchenkreises Hattingen-Witten

Hendrik Oestreich, ehrenamlicher Mitarbeiter CVJM Oberlübbe

Dr. Frank Pawellek, ehrenamtlicher Mitarbeiter, Dorsten

Jürgen Tiemann, Superintendent des Kirchenkreises Minden

Andreas Unverfärth, ehrenamtlicher Mitarbeiter CVJM Lübbecke

Oberkirchenrätin Petra Wallmann, Mitglied der Kirchenleitung

Birgit Winterhoff, Leiterin des Amtes für missionarische Dienste

Klettern in der Kirche, Beten in der Kneipe: h3 Metzingen

Der Gottesdienst im „Schlemmerstüble“ heißt „Treffen für Leib und Seele“. Die Holzhütte am Ortsrand von Metzingen ist mit Geweihen, alten Sensen und Holzrechen dekoriert. Nach und nach füllt sich der Raum, es kommen junge Familien mit kleinen Kindern, man umarmt sich zur Begrüßung. „Hilde empfiehlt“ steht auf Zetteln, die auf den Tischen liegen: Hilde empfiehlt heute Schweinegeschnetzeltes mit Spätzle und Salat (8,50) oder Flädlessuppe (3,50). Für das anschließende Mittagessen machen die Gäste einen Strich hinter das gewünschte Gericht und sind gebeten, anschließend das Geld nach Ermessen in ein Körbchen zu legen. Auch für die Getränke, die jetzt schon mal serviert werden.

Das „Schlemmerstüble“ in Metzingen

Das „Schlemmerstüble“ in Metzingen

Pastor Schwenkschuster predigt heute über die Hoffnung. In T-Shirt und löchrigen Jeans steht er in der Mitte, spricht kraftvoll, wirft nur ab und zu einen Blick auf sein Manuskript. „Dinge, die hinter dem überschaubaren Horizont liegen, kann ich nur erahnen“, sagt er. „Wo wir als Gemeinde in fünf Jahren sind – ich weiß es nicht.“ Wie ist Gott? Das zu begreifen, übersteigt seinen Horizont. Aber da ist die Hoffnung. „Die Frage: Wo ist dein Horizont beschränkt? bedeutet: Was schränkt deine Hoffnung ein?“ Risikobereitschaft bedeutet Glaubensmut.

Solchen Glaubensmut hat Bernd Schwenkschuster mit der Gemeindeneugründung vor fünf Jahren bewiesen. Zwei Drittel der Gründungsmitglieder, die er ansprach, hatten vorher keine Beziehung zu Gott. Darunter waren „viele getaufte Atheisten, die es aber cool fanden, etwas Neues anzufangen“. Andere verstanden sich durchaus als Christen, hatten aber auf traditionelle Gemeinde, auf Sonntagsgottesdienst mit Orgel und Posaunenchor keine Lust mehr. Schwenkschuster fragte sie, ob sie bereit wären, ein Jahr lang an einer neuen, anderen Gemeinde mitzuwirken. So kamen elf Engagierte zusammen, die sich mit dem Pastor auf die Suche machten „nach dem, was Gott eigentlich von uns will“.

Ein Ergebnis dieser Suche ist die Kletterhalle h3. Das steht für „Hochklettern – Herunterkommen – Halt finden“. Die Kirche aus dem Jahr 1965 wurde umgebaut. An schrägen Wänden, bis zu neun Meter hoch, sind bunte Griffe festgeschraubt, der Fußboden davor ist weich gepolstert. Gottesdienste im engeren Sinne werden hier fast nicht mehr gefeiert. Pastor Schwenkschuster hatte diese „gesponnene Idee“, wie er selber sagt. „Wir haben den Auftrag, Menschen mit Gott in Berührung zu bringen, erklärt der 39-jährige Vater von vier Kindern. „Viele haben heute keine Ahnung mehr, wie das gehen kann.“ Also überlegte er mit seinem Team: Was gibt es in Metzingen noch nicht? Im vergangenen Jahr kamen 15.000 Gäste, um gegen eine Spende zu klettern oder sich abzuseilen. Wer wenig Geld hat, gibt wenig oder nichts. „Ein Familienvater, der sich den nächsten kommerziellen Kletterpark nicht leisten könnte, hat hier mit seinen Kindern einen super Nachmittag“, erzählt Schwenkschuster. Für ihn ist die das H 3 nach wie vor Gottes Haus. „Wir wachsen nicht wegen der Kletteranlage, sondern weil Menschen merken: Es ist erlaubt, neue Wege zu gehen.“

Nach wenigen Wochen hat die Leitung der methodistischen Kirche das Projekt Kletterhalle genehmigt, die nötigen 160.000 Euro kamen schnell durch Spenden zusammen. Die Gemeinde ist attraktiv

Pastor Bernd Schwenkschuster erzählt von seiner Gemeinde im „h3“.

Pastor Bernd Schwenkschuster erzählt von seiner Gemeinde im „h3“.

für junge Erwachsene, Akademiker, Gutverdiener. Ein klassisches Angebot mit Gruppen und Kreisen gibt es nicht – „das machen andere schon“. Was es gibt, sind Angebote Einzelner: von Radtouren und Höhlenbesuchen über Spieleabende und Backkursen bis Heilfasten. Außerdem: acht sehr aktive Hauskreise, für Pastor Schwenkschuster die Basis des geistlichen Lebens.

Der Theologe ist völlig frei von besorgtem Kirchturmdenken: „Wer woanders als Christ sein Zuhause findet – super! Ob in einer evangelisch-landeskirchlichen oder katholischen oder einer Pfingstgemeinde, ist völlig egal. Entscheidend ist, dass das Reich Gottes gebaut wird.“

Bernd Schwenkschuster verschweigt nicht, dass seine methodistische Kirche in mancher Hinsicht „mit dem Rücken zur Wand steht“. Auch sie ist von Überalterung und Mitgliederschwund betroffen. Die Vorgängergemeinde in Metzingen wurde genau deshalb aufgegeben. Aber er ist überzeugt: „Die besten Tage der Kirche liegen noch vor uns.“

 

Fotogalerie: FreshX Exkursion

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Tobias Merckle leitet des Seehof, wo jugendliche Straftäter im freien Vollzug leben.

Ankommen, wachsen, weitergehen: Jesus_AG Ludwigsburg

Vor 15 Jahren kam fast niemand mehr zur Bibelstunde der Landeskirchlichen Gemeinschaft in Ludwigsburg. Die Gemeinde in der Seestraße war überaltert. Heute versammeln sich hier zu den Gottesdiensten regelmäßig über 150 durchweg junge Leute. Was ist geschehen?

 Tobi Becker begeistert in der „Jesus_AG“ in Ludwigsburg viele junge Leute.

Tobi Becker begeistert in der „Jesus_AG“ in Ludwigsburg viele junge Leute.

Damals entstand um den Gemeinschaftspastor Tobi Becker die „jesus_AG“. „Glaube heißt, Menschen zu dienen und zu schauen, wo Gott einen haben möchte“, sagt Becker. In Ludwigsburg gibt es nicht nur die eine Evangelische Hochschule, sondern auch eine staatliche Pädagogische Hochschule, eine Fachhochschule für Finanzwesen und eine Filmakademie. „Ankommen, wachsen, weitergehen“ – nach diesem Prinzip versammeln die Leute von der „jesus_AG“ Studierende aus allen Himmels- und Glaubensrichtungen. Dabei verbinden sich praktizierte Frömmigkeit, Gemeinschaft und soziales Engagement. „StudienStart – von Studenten für Studenten“ bietet Hilfe und Beratung für Erstsemester. Wer möchte, kann dabei nicht nur einen Latte Macchiato an der „Kostbar“ trinken, sondern auch Gott in Liedern und Gebeten begegnen oder in Gesprächskreisen sich durch die Bibel herausfordern lassen. Die „Pray Station“ lädt zum Gebet ein und nimmt auf Wunsch auch Gebetsanliegen auf.

Gemeinschaftliche Aktivitäten unter witzigen Überschriften erfreuen sich großer Beliebtheit: „Betreutes Wohnen“ bedeutet: eine Woche zusammen im Gemeindehaus verbringen, mit Schlafsack und Iso-Matte auf dem Fußboden nächtigen, gemeinsam kochen, essen, Zeit teilen. Bei „Strick’n Chic“ kommen Studentinnen zum Stricken, Essen, Reden und zu Maniküre zusammen.

Aber der Blickwinkel ist weiter: Migranten und Flüchtlinge sind mit dabei, das Musikprojekt „beatz“ versammelt türkischstämmige Jugendliche. Die Aktion Integration (AKI) organisiert, Begegnung, Deutschunterricht, Hilfe bei Hausaufgaben und Wohnungssuche, eine Kindergruppe und gemeinsame Unternehmungen. Dass auch internationale Gottesdienste dazugehören, ist keine Frage.

„jesus_AG“ hat einen Stamm von 60 Mitgliedern. Die Arbeit wird fast nur durch Spenden finanziert.

Maniküre und Seelsorge: Nagelstudio nail X

Es war einmal eine junge Frau, die sich gerne ihre Fingernägel machen ließ. Regelmäßig im Nagelstudio. Als Diakonin arbeitete sie in der Kirche, und ihr Herz brannte dafür, Menschen für Jesus Christus zu gewinnen. Als Kundin im Nagelstudio wurde ihr bewusst: Hierher kommen Leute, die wir im kirchlichen Milieu niemals treffen. Hierher kommen Leute, meist Frauen ohne höheren Bildungsabschluss, die reden wollen, von sich und ihrem Leben erzählen, die dankbar sind, wenn ihnen jemand zuhört. Die körperliche Nähe bei der Maniküre fördert intensive Gespräche, fördert Vertrauen, auch über intime Dinge zu sprechen, über Sorgen und Nöte, Brüche und Verletzungen.

Da dachte die junge Diakonin: Wo sonst komme ich mit Menschen so ins Gespräch? Hier, im Nagelstudio, hier will ich Salz und Licht sein. Diesen Menschen mit ihrem Lebenshunger will ich die befreiende Botschaft von Gottes Liebe weitersagen, denn niemand sagt sie ihnen sonst. Außer der Nageldesignerin haben sie keinen, dem sie sich anvertrauen können. Die Welt von Beauty, Wellness und Kosmetik ist von Spiritualität einer bestimmten Tonart durchdrungen, auf esoterische und asiatische Versatzstücke trifft man überall, kleine Buddhafiguren, Räucherstäbchen oder bunte Steine. Aber keine Spur von christlichem Glauben.

So entstand bei Damaris Binder der Plan – „zunächst nur eine Spinnerei“, sagt sie –, ein christliches Nagelstudio zu gründen. Dann ermutigten sie viele Leute, ihre Spinnerei weiterzudenken und in die Tat umzusetzen. Vorher aber wollte sie wissen, „ob das auch Gottes Idee ist“. Regelmäßig traf sie sich mit einer Gruppe zum Gebet. Der Plan reifte, wurde konkret, ganz viele Türen gingen auf, Fachleute für Marktforschung, für Steuern und Finanzen wurden konsultiert. Damaris Binder absolvierte einen Kurs für Nageldesign, denn sie wollte professionell arbeiten. Im September 2014 war es so weit: Mit einem kleinen Team eröffnete „nail X“ im Osten Stuttgarts als wohl erstes christliches Nagelstudio überhaupt.

Intensive Gespräche

In der ersten Woche kam niemand. Doch dann schauten immer mehr herein, aus Neugier zunächst, es sprach sich herum, eine Stammkundschaft wuchs. Manche wollten sich wirklich nur die Nägel machen lassen, doch „je mehr Leute kamen, desto intensiver wurden die Gespräche“. Vom anfänglichen Smalltalk kam man auf Fragen des Lebens und Sterbens. Wenn sich die Diakonin als Frau der Kirche zu erkennen gab, stieß sie nicht auf Ablehnung oder Vorurteile, sondern oft Anerkennung und Respekt. Die meisten ihrer Gesprächspartnerinnen hatten keinerlei Wissen über Kirche und Glauben, keinerlei Erfahrungen damit. So begegneten sie ihr mit völliger Offenheit. Das forderte sie als Christin heraus: „Ich musste mich oft neu fragen: Was glaube ich eigentlich und warum?“

Eine Kundin allerdings erklärte entschieden, christlicher Glaube sei nicht „ihr Ding“. Einmal klagte sie über fürchterliche, hartnäckige Migräne, kein Arzt konnte ihr helfen. Damaris bot ihr an, für sie zu beten. Die Frau war überrascht, doch dann ging sie darauf ein. Sie fühlte sich geehrt.

Nicht selten hat Damaris erlebt, wie zwischenmenschliche Fassaden bröckeln. „Ins Nagelstudio kommen Menschen, die so ganz anders ticken als wir.“ Menschen, deren Lebensziele Reichtum und Statussymbole sind, Frauen, die gerne Germany’s next top model oder Superstar geworden wären und ihr sauer verdientes Geld für eine Brustoperation ausgeben. „Unser Ziel war, auf diese Leute zu hören und herauszufinden, was sie beschäftigt.“ Diese liebevolle Zuwendung blieb nicht ohne Folgen: „Bei uns konnten sie endlich sie selber sein.“ Es wuchs Vertrauen, es entstanden tiefe Verbindungen.

Kein „Sheep stealing“

Von der Spinnerei zur Wirklichkeit: Damaris Binder hat das Nagelstudio „nail X“ in Stuttgart gegründet und geleitet.

Von der Spinnerei zur Wirklichkeit: Damaris Binder hat das Nagelstudio „nail X“ in Stuttgart gegründet und geleitet.

Trotz allem Erfolg: Die Geschichte von nail X verlief nicht ohne Probleme. Alle direkt und indirekt betroffenen kirchlichen Stellen, Partner und Nachbarn mussten frühzeitig und beharrlich immer wieder über das schräge Projekt informiert werden. „Es kann gar nicht oft genug erklärt werden“, sagt Damaris Binder. Auch damit in der Kirchengemeinde, in deren Gebiet das Nagelstudio eröffnen würde, eine Konkurrenzangst erst gar nicht aufkäme. „Wir betreiben kein sheep stealing“, sagt die Diakonin: Kein Pfarrer, kein Kirchengemeinderat muss befürchten, ihm würden seine Schäfchen abspenstig gemacht. Denn die Nagelstudio-Kundschaft gehört zu einer ganz anderen Schafherde.

Damaris Binder ist eine zierliche, elegante Frau mit dunklen Augen, dezent geschminkt, die schwarzen Haare trägt sie in modischer Kurzhaarfrisur. Sie sprüht vor Energie. Zugleich berichtet sie ganz nüchtern, was bei nail X falsch gemacht wurde: Das Team von sechs Personen, mit denen sie an den Start ging, war zu klein. Als sich bei ihr und gleichzeitig bei einer anderen Mitarbeiterin das zweite Kind anmeldete, musste die Arbeit bis auf weiteres eingestellt werden. Das ging nicht ohne Tränen. Ehrlich sagt sie: „Hier verstehe ich Gott nicht.“ Aber das Nagelstudio hat gezeigt, dass sich Kirche auch dort ereignen kann, wo niemand damit rechnet.

Auch ohne Taufe dazugehören: Gemeinde am Glemseck

„Natürlich freuen wir uns, wenn nach einiger Zeit der Wunsch entsteht, sich auch taufen zu lassen“, sagt Tobias Merckle. Aber es ist nicht Voraussetzung, um Mitglied zu werden. Der Antrag darauf ist im Internet zu finden: Jede und jeder kann damit in die Gemeinde am Glemseck aufgenommen werden.

Tobias Merckle leitet das Seehof, wo jugendliche Straftäter im freien Vollzug leben.

Tobias Merckle leitet das Seehof, wo jugendliche Straftäter im freien Vollzug leben.

Merckle, Diakon und Sozialarbeiter, ist geschäftsführender Vorstand des Vereins Seehaus e.V., der in dem Städtchen Leonberg bei Stuttgart eine Modelleinrichtung des Jugendstrafvollzugs in freier Form betreibt. Daraus entstand die ungewöhnliche Kirchengemeinde.

In einem alten Gutshaus leben 18 jugendliche Straftäter in drei Wohngemeinschaften familienähnlich zusammen. „Wir wollen sie jenseits der Gefängnismauern dazu erziehen, ein Leben ohne Kriminalität zu führen“, sagt Tobias Merckle. Sie sollen lernen, Verantwortung füreinander zu übernehmen. Ein straffer Tagesablauf und regelmäßiger Sport fordern die 14- bis 23-Jährigen. Gespräche mit den Opfern konfrontieren die Täter mit den schlimmen Folgen ihrer Vergehen. So können sie an ihrer Vergangenheit arbeiten. Und: Die Mitarbeiter leben ihren christlichen Glauben vor.

Das geschah von Anfang an auch durch Gottesdienste – in Formen, die Jugendliche ansprechen. „Damit verband sich die Hoffnung, Seehaus-Ehemalige wirklich langfristig in Kirchengemeinden zu integrieren“, berichtet Merckle. Doch das gelang nur in ein, zwei Fällen. Zu verschieden sind die Lebenswelten, Interessen, Gesprächsthemen, Milieus. So wurde die Vision einer eigenen Gemeinde geboren. Einer diakonischen, missionarischen, integrativen Gemeinde, die Leute erreicht, die andere nicht erreichen. Die Vision ist kühn, die Zielgruppen sind zahlreich: Strafgefangene, Haftentlassene, Abhängige, Bildungs- und Kirchenferne, Flüchtlinge. Oder Motorradfahrer – jährlich kommen 75.000 ganz in der Nähe zu einem der größten Bikertreffen Europas zusammen. Oder Personen, die kirchlich geprägt waren, dann aber nichts mehr mit der Kirche zu tun hatten. Oder Christen, die in den Großraum Stuttgart ziehen und eine lebendige, diakonische Gemeinde suchen.

Vieles davon ist noch Vision, räumt Merckle ein. Aber es gibt im Seehaus eine Menge Menschen, die für das Evangelium brennen und diese Gemeinde bauen wollen. In der Evangelischen Landeskirche in Württemberg hat man den kraftvollen Impuls erkannt und dafür schließlich einen kirchenrechtlichen Weg gefunden: Die Kirchenordnung ermöglicht nun personale Gemeinden, die etwas anders sind als herkömmliche und „an der langen Leine geführt werden“, wie Wolfgang Vögele sagt. „Wir haben eine passende Rahmenordnung geschaffen“, berichtet der Dekan des Kirchenkreises Ludwigsburg, der sich für die Gemeinde am Glemseck stark einsetzt. „Das war nicht ganz einfach – wenn hoch motivierte Leute sofort loslegen wollen und eine ehrwürdige Institution sich nur schwerfällig bewegt.“ Doch am 18. April 2016 war es so weit: Die Gemeinde am Glemseck wurde vom Oberkirchenrat in Stuttgart als Personalgemeinde anerkannt. Sie ist ihrer Rechtsform nach eine unselbständige Gemeinde unter dem Dach der Kirchengemeinde Leonberg Nord.

Die Rechtsform ist jedoch den meisten am Glemseck egal. 80 bis 120 kommen zu einem der Gottesdienste, die alle zwei Wochen gefeiert werden, mit viel Musik und an wechselnden Orten, zum Beispiel in der Schreinerei im Seehaus, wo werktags strafgefangene Jugendliche an der Hobelmaschine stehen. Die Predigt halten meistens Gäste, auch mal ein freikirchlicher Pastor oder ein katholischer Priester. Einmal im Monat gibt es den „Lebensbericht“: Gäste mit interessanter Lebensgeschichte, nicht selten ehemalige Suchtkranke oder Straftäter, erzählen von sich. Und schließlich kommt man noch regelmäßig zum Gemeinschaftsabend zusammen, mit Musik, Spielen, Zeit zum Reden und einem geistlichen Impuls. Außerdem bietet die Gemeinde Kindergottesdienst, einen Biker-Stammtisch, Jugendkreis, Krabbelgruppe und vieles mehr.

Dr. Martin Brändl von der Projektstelle „Neue Aufbrüche“, Dekan Wolfgang Vögele und Tobias Merckle (von links)

Dr. Martin Brändl von der Projektstelle „Neue Aufbrüche“, Dekan Wolfgang Vögele und Tobias Merckle (von links)

Für Dr. Martin Brändl von der Projektstelle „Neue Aufbrüche“ der württembergischen Landeskirche steht fest: „Wir müssen die Mentalitäten verändern. Es reicht nicht, nur das Alte festzuhalten.“ Der Pfarrer betont aber die Bedeutung der Ortsgemeinden, die es zu stärken gelte. „Wir brauchen das Neue nicht als Alternative, sondern als Ergänzung.“

Die junge Gemeinde am Glemseck wächst. Noch kennt man sich gegenseitig. Wächst sie weiter, wird sie sich verändern. „Nur durch persönliche Beziehungen werden wir es schaffen, dass die Leute hierbleiben“, ist Tobias Merckle überzeugt. Die Zukunft ist offen und spannend.

Demografischer Wandel, gesellschaftliche Milieus ohne Berührung zu Kirche, Wegbrechen von früher selbstverständlichen christlichen Traditionen…
Die westfälische Kirchenleitung will dieser Herausforderung begegnen. Und hat sich deshalb auf eine Exkursion nach Württemberg begeben, um dort einige beispielhafte FreshX-Projekte zu besuchen, um davon zu lernen.