Es war einmal eine junge Frau, die sich gerne ihre Fingernägel machen ließ. Regelmäßig im Nagelstudio. Als Diakonin arbeitete sie in der Kirche, und ihr Herz brannte dafür, Menschen für Jesus Christus zu gewinnen. Als Kundin im Nagelstudio wurde ihr bewusst: Hierher kommen Leute, die wir im kirchlichen Milieu niemals treffen. Hierher kommen Leute, meist Frauen ohne höheren Bildungsabschluss, die reden wollen, von sich und ihrem Leben erzählen, die dankbar sind, wenn ihnen jemand zuhört. Die körperliche Nähe bei der Maniküre fördert intensive Gespräche, fördert Vertrauen, auch über intime Dinge zu sprechen, über Sorgen und Nöte, Brüche und Verletzungen.
Da dachte die junge Diakonin: Wo sonst komme ich mit Menschen so ins Gespräch? Hier, im Nagelstudio, hier will ich Salz und Licht sein. Diesen Menschen mit ihrem Lebenshunger will ich die befreiende Botschaft von Gottes Liebe weitersagen, denn niemand sagt sie ihnen sonst. Außer der Nageldesignerin haben sie keinen, dem sie sich anvertrauen können. Die Welt von Beauty, Wellness und Kosmetik ist von Spiritualität einer bestimmten Tonart durchdrungen, auf esoterische und asiatische Versatzstücke trifft man überall, kleine Buddhafiguren, Räucherstäbchen oder bunte Steine. Aber keine Spur von christlichem Glauben.
So entstand bei Damaris Binder der Plan – „zunächst nur eine Spinnerei“, sagt sie –, ein christliches Nagelstudio zu gründen. Dann ermutigten sie viele Leute, ihre Spinnerei weiterzudenken und in die Tat umzusetzen. Vorher aber wollte sie wissen, „ob das auch Gottes Idee ist“. Regelmäßig traf sie sich mit einer Gruppe zum Gebet. Der Plan reifte, wurde konkret, ganz viele Türen gingen auf, Fachleute für Marktforschung, für Steuern und Finanzen wurden konsultiert. Damaris Binder absolvierte einen Kurs für Nageldesign, denn sie wollte professionell arbeiten. Im September 2014 war es so weit: Mit einem kleinen Team eröffnete „nail X“ im Osten Stuttgarts als wohl erstes christliches Nagelstudio überhaupt.
Intensive Gespräche
In der ersten Woche kam niemand. Doch dann schauten immer mehr herein, aus Neugier zunächst, es sprach sich herum, eine Stammkundschaft wuchs. Manche wollten sich wirklich nur die Nägel machen lassen, doch „je mehr Leute kamen, desto intensiver wurden die Gespräche“. Vom anfänglichen Smalltalk kam man auf Fragen des Lebens und Sterbens. Wenn sich die Diakonin als Frau der Kirche zu erkennen gab, stieß sie nicht auf Ablehnung oder Vorurteile, sondern oft Anerkennung und Respekt. Die meisten ihrer Gesprächspartnerinnen hatten keinerlei Wissen über Kirche und Glauben, keinerlei Erfahrungen damit. So begegneten sie ihr mit völliger Offenheit. Das forderte sie als Christin heraus: „Ich musste mich oft neu fragen: Was glaube ich eigentlich und warum?“
Eine Kundin allerdings erklärte entschieden, christlicher Glaube sei nicht „ihr Ding“. Einmal klagte sie über fürchterliche, hartnäckige Migräne, kein Arzt konnte ihr helfen. Damaris bot ihr an, für sie zu beten. Die Frau war überrascht, doch dann ging sie darauf ein. Sie fühlte sich geehrt.
Nicht selten hat Damaris erlebt, wie zwischenmenschliche Fassaden bröckeln. „Ins Nagelstudio kommen Menschen, die so ganz anders ticken als wir.“ Menschen, deren Lebensziele Reichtum und Statussymbole sind, Frauen, die gerne Germany’s next top model oder Superstar geworden wären und ihr sauer verdientes Geld für eine Brustoperation ausgeben. „Unser Ziel war, auf diese Leute zu hören und herauszufinden, was sie beschäftigt.“ Diese liebevolle Zuwendung blieb nicht ohne Folgen: „Bei uns konnten sie endlich sie selber sein.“ Es wuchs Vertrauen, es entstanden tiefe Verbindungen.
Kein „Sheep stealing“
Von der Spinnerei zur Wirklichkeit: Damaris Binder hat das Nagelstudio „nail X“ in Stuttgart gegründet und geleitet.
Trotz allem Erfolg: Die Geschichte von nail X verlief nicht ohne Probleme. Alle direkt und indirekt betroffenen kirchlichen Stellen, Partner und Nachbarn mussten frühzeitig und beharrlich immer wieder über das schräge Projekt informiert werden. „Es kann gar nicht oft genug erklärt werden“, sagt Damaris Binder. Auch damit in der Kirchengemeinde, in deren Gebiet das Nagelstudio eröffnen würde, eine Konkurrenzangst erst gar nicht aufkäme. „Wir betreiben kein sheep stealing“, sagt die Diakonin: Kein Pfarrer, kein Kirchengemeinderat muss befürchten, ihm würden seine Schäfchen abspenstig gemacht. Denn die Nagelstudio-Kundschaft gehört zu einer ganz anderen Schafherde.
Damaris Binder ist eine zierliche, elegante Frau mit dunklen Augen, dezent geschminkt, die schwarzen Haare trägt sie in modischer Kurzhaarfrisur. Sie sprüht vor Energie. Zugleich berichtet sie ganz nüchtern, was bei nail X falsch gemacht wurde: Das Team von sechs Personen, mit denen sie an den Start ging, war zu klein. Als sich bei ihr und gleichzeitig bei einer anderen Mitarbeiterin das zweite Kind anmeldete, musste die Arbeit bis auf weiteres eingestellt werden. Das ging nicht ohne Tränen. Ehrlich sagt sie: „Hier verstehe ich Gott nicht.“ Aber das Nagelstudio hat gezeigt, dass sich Kirche auch dort ereignen kann, wo niemand damit rechnet.